Beim Besuch von Ausstellungen zum alten Ägypten kommt man unweigerlich in Kontakt mit dem Totenkult dieser Hochkultur; das mag vor allem daran liegen, dass die Objekte, die aus dieser Zeit erhalten und damit austellbar sind, vornehmlich in den gut konservierenden Grabkammern gefunden wurden. Der Aufwand und die Präzision, die den Grabbeigaben zukam, zeugt aber von einer tatsächlichen großen Relevanz des Jenseitigen für die alten Ägypter. Und auch auf die heutigen Betrachtenden üben diese Objekte eine ganz eigene Anziehung aus.
So finde ich etwa die Vorstellung, dass dreidimensionale, vor allem aber auch zweidimensionale oder Reliefdarstellungen des (idealisierten) Abbildes dazu dienen, im Falle einer Zerstörung der Mumie die wiedergeborene Seele aufzunehmen, faszinierend. Es mag an meinem medienwissenschafltichen Hintergrund liegen, dass ich mir das natürlich gleich in Art einer Animationssequenz vorstellte, wobei die dann sozusagen lebendig gewordene Relieffigur Abenteuer oder auch nur ein ganz normales Leben in der 2D-Welt der Fläche erlebt. Der Vorstellung der alten Ägypter nach verließ die Darstellung dann jedoch wohl die zweidminsionale ‘Bildebene’ und trat wieder in die Welt ein – allerdings in die Totenwelt, die abgegrenzt ist von der der Lebenden, gleichwohl dreidimensional.
Die Vorstellung einer Animation liegt aber doch gar nicht so fern, wenn man sich die Etymologie des Wortes, also Animation, zu Gemüte führt: zurück zu führen auf das lateinische Anima, was Seele, Atem, Leben bedeutet, worauf dann animiert in etwa beseelt/belebt bedeutet – was ja wiederum genau die Vorstellung der alten Ägypter beschreibt.
Aber nicht nur die Reliefverzierungen der Grabkammern haben spannende Hintergrundgeschichten, auch die Aufbewahrungsgegenstände der Toten, kurz Särge genannt, weisen ungeahnte Dimensionen an bildlich und schriftlich transferierten Informationen auf.
Sarg des Nacht, RPM Hildesheim, Aufgenommen 05/2017
Der einbalsamierte, mumifizierte Körper wurde in Sarkophagen aufbewahrt; bekannt sind die prächtig bemalten, mit Totenmasken wie die des Tutenachmun versehenen Särge in Menschenform.
Im heute als ‘Mittleres Reich’ bezeichneten Zeitraum zwischen 2050 v.Chr. und 1794 v.Chr., waren auch unseren heutigen Särgen nicht ganz unähnliche Holzkästen gebräuchlich. Teile eines solchen waren das für mich faszinierendste Objekt, welchem ich in der Ägypten-Ausstellung des Roemer und Pelizaeus-Museum in Hildesheim begegnete.
Dort ist der Sarg des Nacht ausgestellt, er wirkt neben anderen, prächtigeren Objekten, wie etwa einem Sarg in Menschenform oder der Statue des Hem-iunu vielleicht eher unscheinbar, doch in der Führung zog er meine Aufmerksamkeit sogleich auf sich.
Deckel des Sarg des Nacht, RPM Hildesheim, Aufgenommen 05/2017
Erhalten sind der Deckel sowie die Seitenwände des Sarges; in der Ausstellung werden die Teile so präsentiert, dass die Innenseite des Deckels nach oben zeigt, an der Stelle liegt, an der sich vormals der Boden des Sarges befand. Das hat einen guten Grund: die Innenseite ist mit einer Sternenuhr bemalt; Nach der Wiederbelebung des mumifizierten Körpers sollte dieser so die Möglichkeit haben, erstens herauszufinden, wo sich ‘oben’, also der Ausgang aus dem Grab befindet, außerdem ließ sich gleichzeitig auch feststellen, wie viel Uhr es ist. So kann man sich sogleich orientieren, wenn man wiederbelebt wird, praktisch!
Meine liebste Seite der Sargplatten ist jedoch die am Fußende: Um in das Totenreich eingelassen zu werden, muss man sich zunächst dem Totengericht unter Vorsitz von Osiris, dem Herrscher der Totenwelt, unterziehen. Leider ist diese Prüfung nicht so einfach – das eigene Herz wird gegen eine Feder gewogen; währenddessen muss der oder die Verstorbene der Vorstellung der alten Ägypter nach bezeugen, dass er oder sie zu Lebzeiten nicht gesündigt hat, wobei man nicht lügen durfte – das wäre wiederum als Sünde einzustufen. Osiris und die 42 weiteren ihm beisitzenden Götter sind erst davon überzeugt, dass das Herz frei von Unrecht und Sünde ist, wenn die Waage anzeigt, dass das Herz nicht schwerer als das Gegengewicht ist.
Um dieses Tribunal erfolgreich zu überstehen, gibt die Bemalung und Beschriftung der Fußtafel Hinweise, wie man diese Prüfung durch Osiris besonders gut meistert – man soll etwa eine ruhigen Atmen bewahren. Ein altägyptisches Cheatsheet sozusagen, wie großartig!
Fußplatte des Sarg des Nacht, RPM Hildesheim, aufgenommen 05/2017