#heritageMW: Die Geschichte von der Geschichte der Heimat

Es mag vielleicht seltsam anmuten, dass ich für den Tag zum kulturellen Erbe der MuseumWeek ausgerechnet ein Buch bespreche, in dem kein tatsächlich existentes Museum vorkommt, sondern ein fiktives ‘Haus der Heimat’, in einem erfundenen Ort, Fürstenfelde, stehend. Aber gerade dieses Buch, ‘Vor dem Fest’ von Saša Stanišić, setzt sich auf so vielfältige Weise mit Althergebrachtem auseinander, dass es tatsächlich ganz hervorragend zum heutigen Hashtag #heritageMW passt.

Aber von vorn:

In ‘Vor dem Fest’ begegnen wir einem Dorf. Einen Tag, vielmehr eine Nacht verbringen wir mit wechselndem Personal in Fürstenfelde, einem fiktiven Ort in der Uckermark. Da ist Anna, die eigentlich nur ziemlich spät am Abend noch eine Runde Joggen geht. Oder Johann, der am nächsten Tag seine Glöcknerprüfung ablegen will. Oder Herr Schramm, ehemaliger Oberstleutnant der NVA, der gerne Zigaretten holen möchte, was sich als ungewöhnlich schwierig erweist. Und eine Fähe, die für ihre Fuchsjungen Eier stehlen möchte. Sie alle und noch mehr sind also unterwegs, in dieser Nacht, in Fürstenfelde. Wir begleiten diese Personen, manche treffen aufeinander, und immer wieder gibt es eingeschobene Absätze von einem ‘Wir’, eine Art kollektives Gedächtnis des Dorfes. Und ebenfalls immer wieder eingeschoben sind Absätze, Auszüge einer Chronik des Ortes, in denen vergangene Begebenheiten, oft schauriger Natur, beschrieben werden, in einem altertümlich klingenden Deutsch.

Und, das ist der Twist des Romans,  diese historisch anmutenden Passagen sind keine solchen; denn die ehrenamtliche Leiterin des Hauses der Heimat, Frau Schwermuth verfährt auf eine ganz eigene Art mit der Chronik: Sie erzählt sie  neu, erzählt nach, ändert um – vielleicht, damit es eine bessere, spannendere, kurzum überhaut eine Geschichte wird. Und als Leserinnen und Leser des Romans sind wir uns ab dem Punkt, an dem dies klar wird, plötzlich nicht mehr sicher, welche von den Einschüben, die in einer mittelhochdeutsch anmutenden Sprache verfasst waren, von Frau Schwermuth angepasst, abgeändert wurden. Innerhalb der Fiktion verschwimmen also Realität und Fiktion ums Neue. Und wirken dadurch auf unser Bild des Ortes, des fiktionalen Fürstenfelde, dass stark inspiriert ist vom tatsächlichen Ort Fürstenwerder, zurück.

Liest man ‘Vor dem Fest’ als einen der viel besungenen ‘neuen deutschen Heimatromane’, so ist diese Tatsache besonders interessant: Die Konstruiertheit dieses Heimatbegriffs wird herausgestellt, und das, ohne zynisch zu werden, ohne in Kitsch abzudriften. Dass ‘Vor dem Fest’ gefühlt am Anfang der Reihe dieser Romane steht (In verschiedenen Ausprägungen ließe sich Juli Zehs Unterleuten ebenso in diese Reihe stellen wie Dörte Hansens ‘Altes Land’, ebenso wie Mariana Lekys Was man von hier aus sehen kann) hebt ihn also nicht nur durch diese Tatsache des ‘Ersten’ ab, sondern auch und vor allem dadurch, dass dieses ‘neue Genre’ innerhalb des Romans bereits dekonstruiert wird.

Besonders gefällt mir außerdem, dass das Haus der Heimat eine digitale Erweiterung erfährt – unter fürstenfelde.de gibt es auch ein Haus der Heimat – eine Sammlung von nicht im Buch enthaltenen Textfragmenten, Berichten des Autors über abgehaltene Lesungen und Verweisen auf Interviews und Rezensionen.

In einem der dort zu findenden Texte beschreibt Stanišić wie er eine Lesung in Fürstenwerder abhält – eine für ihn wichtige, wie er schreibt, denn “dort sind sich die Fiktion und die Wirklichkeit am nächsten.” Am Ende des kurzen Texts sind die Geschenke, die er bei der Lesung erhielt, abgebildet: Artefakte, die unserer realen Welt entstammen, aus Fürstenwerder, die allesamt aber aufgeladen sind mit mit Bedeutung, durch das Buch, durch die Rolle, die sie im Fürstenfelde der Fiktion spielen. An diesem Punkt zeigt sich, wie sehr Geschichte, das Vergangene, immer auch eine Geschichte, Erzählung, ist – so erhält auch der Gebrauchsgegenstand Eierschachtel eine Bedeutung.Und wir kommen wieder auf Frau Schwermuth und ihre Einfügungen in die Geschichte zurück – Die Leserinnen und Leser des Erzählten werden zu Eingeweihten, und die Fiktion wird zu etwas, das wir kulturelles Erbe nennen könnten.

 

Link:
Saša Stanišić, Vor dem Fest, erschienen bei Luchterhand

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